Murat Baltic, 1952 in Sjenica geboren. War von Beruf Richter bis er nach Deutschland fliehen musste. Seit fasst zehn Jahren lebt er in der Nähe Köln. Er hat in seiner Muttersprache kritische Essays, Romane und Gedichtbände veröffentlicht. Auf Deutsch unter anderem erschienen: Des Tages Letzte Stunde (Gedichtband), Höllenbaum und Schlaflosigkeit (Roman) und Fatwa (Roman).
MIT FÜNUNDFÜNFZIG
Mit fünfundfünfzig
Sitze ich auf der Bank.
Was war,
Weiß ich.
Was sein wird,
Besser dass ich es nicht weiß.
Den auch von dem was ich weiß,
Hätte ich besser
Vieles nicht gewusst.
Mein Haar ist graumeliert.
Mein Gedächtnis auch.
Erinnerungen quellen
Aus dem Hinterhalt.
Die Heimat zerreißt den Rumpf,
Und der Rumpf,
Ein Felsen,
Wüst und verlassen.
Ich erinnere mich an den Vater.
Mit fünfundfünfzig
Hatte er ein Pferd,
Ein Sattel,
Und einen gebrauchten Militärmantel.
Viele Kinder,
Und eine gute Frau.
Eine Uhr hatte er nicht.
Seine Zeit
Ordnete er mit der Sonne.
Und Berge,
Flüsse,
Wiesen,
Weiden- vor sich.
Saß er wo er wollte,
Ritt wohin er wollte,
Und mit wem er wollte,
Und nach Hause kam er,
Wann er wollte.
Dorfpolitiker war er,
hatte von politischen Systemen
keine Ahnung,
Und wollte keine haben.
Ich lebe in einem demokratischen Land.
In einer Wohnung
Sortiere ordentlich Müll,
Spare Strom,
Und Wasser.
Achte auf Bürgersteig,
Und Fußgängerwege,
Auf Lärm in der Wohnung,
Und auf Kinderschrei.
Um sieben gehen sie ins Bett.
Beten leise
Für eine gute Nacht.
( Das melde ich nicht
Und notiere auch nicht).
Hier ist Demokratie.
Und man weiß kaum
Wer Rock
Und wer Hosen trägt.
Ob die Liebe gratis ist,
oder wie viel sie kostet.
Und noch ist nicht ausgemacht
Ob die Kinder
Eine Last
Oder ein Geschenk Gottes sind.
Und ob sie so lieb
Wie Haustiere sein können.
Hier kann ich denken
Was ich will.
Und schweigen
Soviel ich will,
Und sagen was ich will,
Aber das bringt mir nichts.
Gegen den Wind pissen kann ich,
Denn ich bin
Ein freier Bürger,
Und gehöre zur Bevölkerung.
Und das Volk
Hat ein Recht zu arbeiten,
Oder nicht zu arbeiten.
Hat ein Recht
Auf Sozialhilfe.
In der Nach auf Schlaflosigkeit.
Teure Manager zu bezahlen.
Ein Manager,
Tausend Arbeiter monatlich.
In Arbeiterschulen
Die Kinder zu schicken,
Denn das Volk stürzt,
Langsam, aber sicher,
Aus dem Arbeits-
In den globalen Sklavenverband.
Ich erinnere mich an den großen Schnurrbart,
als er fragte:
„ Was ist das Volk?“
Und an mein undemokratisches ehemaliges Land
Erinnerte ich mich,
In dem Arbeiter und Bauernkinder
Auf Hochschulen gingen.
Und die Arbeiter
Fuhren kollektiv ans Meer,
Zwar in Raten.
Mit Bargeld lachten sie nur.
„ Das Volk ist Vieh“!
Antwortete damals
Der große Schnurrbart sich selbst…
Achtsam bin ich auf den Fahrplan,
Die Hausordnung,
Die Straßenordnung,
Die Erd – und Luftordnung.
Ich träume von Blutegeln,
Von Vermietern,
Managern,
Und von Politikern,
Träume ich…
Den letzten Bus nehme ich.
- Gehen wir nach Hause?
Fragen die Kinder.
- -Ich weiß nicht –
Sage ich.
Und ich weiß es nicht,
Denn ein Haus habe ich nicht.
Ein Land habe ich nicht.
Auch kein Grundstück
Zwei mal zwei,
Und Stimmrecht habe ich nicht.
Heute,
Mit fünfundfünfzig.
Murat Baltic
Schrecklich wunderschön…